Berlin, im März 2015. Die Erkenntnisse werden nach Einschätzung von Experten die Behandlung des Schlaganfalls revolutionieren: Drei aktuelle Studien, die im Februar auf der International Stroke Conference in Nashville, USA, vorgestellt wurden, belegen die Effektivität der interventionellen Behandlung des Schlaganfalls mittels so genannter Stent-Retriever (Thrombektomie). „Das ist ein enormer Fortschritt in der Akut-Therapie des Schlaganfalls“, sagt Prof. Jens Fiehler, Direktor der Klinik für Neuroradiologische Diagnostik und Intervention am Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf. Rund 10.000 Patienten in Deutschland könnten mit Hilfe dieser Methode vor schwerwiegenden Folgen des Schlaganfalls wie Behinderung oder Tod bewahrt werden.
In allen drei Studien (EXTEND-IA, ESCAPE, SWIFT-PRIME) stieg die Chance der Patienten auf ein günstiges Behandlungsergebnis um 20 bis 30 Prozent, wenn sie zusätzlich zur intravenösen Lysetherapie mit einem Stent-Retriever behandelt wurden. Der Anteil von Patienten, die 90 Tage nach dem Schlaganfall ein Leben ohne funktionelle Beeinträchtigungen führen konnten, war fast doppelt so hoch wie der jener Patienten, die nur die Thrombolyse bekamen.
Die Thrombektomie kommt seit etwa sechs Jahren in hochspezialisierten Zentren zum Einsatz. Auch wenn Ärzte mit diesem Verfahren in den vergangenen Jahren bereits vielen Patienten helfen konnten, existierten bislang keine Ergebnisse aus randomisierten Studien, welche die Überlegenheit dieser interventionellen Therapie gegenüber anderen Verfahren belegte. Mit den aktuellen Studienergebnissen werden in naher Zukunft alle Schlaganfallpatienten mit großen Gefäßverschlüssen von der Thrombektomie profitieren.
Akuttherapie des Schlaganfalls – jede Minute zählt
Rund 80 Prozent aller Schlaganfälle entstehen, weil eine Ader im Gehirn durch ein Blutgerinnsel (Thrombus) verstopft wird. Das verschlossene Blutgefäß verhindert, dass das umliegende Hirngewebe ausreichend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt wird. Dies ruft Störungen der Gehirnfunktion in dem betroffenen Areal hervor. Dauert die Unterversorgung an, sterben Nervenzellen ab.
Bislang galt die intravenöse Thrombolyse als einzige ausreichend belegte Therapie zur Akut-Behandlung des ischämischen Schlaganfalls. Bei der Lysetherapie spritzen Ärzte Patienten das Medikament tPA in eine Vene (Tissue Plasminogen Activator, kurz tPA: eine gentechnisch hergestellte Substanz, die einem vom Körper produzierten Anti-Gerinnungsstoff gleicht.), um das Blutgerinnsel aufzulösen und Hirnzellen zu retten. Dieses Verfahren ist allerdings nur in einem Zeitfenster von bis zu viereinhalb Stunden nach Symptombeginn möglich. Zudem beträgt die Rekanalisierungsrate – also die erfolgreiche Auflösung des Thrombus – weniger als 50 Prozent. Deshalb fahnden Forscher seit Jahren weltweit nach Alternativen oder zusätzlichen Therapien zur Therapie des Schlaganfalls.
Vor allem bei großen Gerinnseln (ab ca. einem Zentimeter Länge) wirkt die intravenöse Lyse häufig nicht. Als alternatives Verfahren steht Ärzten die so genannte Thrombektomie zur Verfügung: Sie führen einen sehr dünnen Katheter durch die Leiste direkt in das Blutgerinnsel im Gehirn hinein. Dort entfaltet sich ein so genannter Stent-Retriever: Das Geflecht aus hauchzartem Maschendraht dehnt sich zur Gefäßwand hin aus und schließt so das Thrombusmaterial in seinem Inneren ein. Durch den Rückzug des Retrievers wird der darin eingeschlossene Thrombus entfernt und der Blutfluss wieder hergestellt. „Besonders beeindruckend ist es, wenn Patienten den Erfolg der Behandlung direkt mitbekommen. Wenn etwa ein Patient eine Sprachstörung hat und eine Körperhälfte nicht bewegen kann. Dann zieht man den Thrombus heraus und der Patient fängt an zu sprechen und hebt seinen Arm. Das ist auch für den behandelnden Neuroradiologen ein ganz unmittelbares Erlebnis; ein großartiges Gefühl. Es ist ein bisschen, wie Lahme wieder gehend machen“, sagt Prof. Jens Fiehler.
Thrombektomie – eine Methode, die nur von erfahrenen Neuroradiologen durchgeführt werden sollte
Der gesamte Eingriff dauert zwischen 20 und 60 Minuten. „Bei alten Menschen mit sehr langen, gewundenen Gefäßen, die womöglich verkalkt sind, kann es manchmal schwierig sein, mit dem Katheter zum Thrombus zu gelangen. Die Studien zeigen aber zweifelsfrei, dass vor allem ältere Patienten besonders von der Thrombektomie profitieren. Und das Risiko des Eingriffs ist für sie nicht höher als für junge Patienten“, sagt Jens Fiehler.
Wie bei jedem interventionellen Eingriff müssen Patienten und Angehörige über mögliche Komplikationen informiert sein – auch, wenn diese extrem selten sind. So kann es etwa passieren, dass beim Führen des Katheters die Gefäßwand verletzt (Dissektion) oder durchstoßen (Ruptur) wird. Oder beim Zurückziehen des Katheters löst sich ein Teil des Thrombus und verschließt nahe gelegene Gefäße. Die Behandlung ist aber letztlich nicht riskanter als die Lysetherapie allein.
Schmerzen spüren Patienten bei dem Eingriff nicht. Die meisten erhalten eine Lokalanästhesie. Bei schlechterem Allgemeinzustand erfolgt der Eingriff, bei dem immer auch ein Anästhesist anwesend ist, in Vollnarkose. „Lediglich den Moment, in dem der Neuroradiologe den Thrombus herauszieht, bekommen Patienten mit. Es tut kurz weh, ist aber nach wenigen Sekunden wieder vorbei“, beruhigt Jens Fiehler.
Experten betonen, wie wichtig es ist, dass die Methode von erfahrenen Spezialisten durchgeführt wird. „Man dringt ja in Bereiche vor, die man nicht sieht. Der behandelnde Arzt muss daher wissen, wo die Gefäße liegen, die verschlossen sind und ein gutes Gefühl dafür haben, welche Kräfte er mit dem Mikrokatheter ausüben darf. Neuroradiologen haben durch intrakranielle Eingriffe wie etwa das Aneurysmacoiling die nötige Expertise für solche Therapien“, sagt Jens Fiehler.
Versorgungssituation in Deutschland prinzipiell gut – verbessert werden muss die Zuweisung zum Spezialisten
Deutschland ist eines jener Länder, in denen die Thrombektomie sehr früh und mit hoher Expertise angewendet wurde. Die Deutsche Gesellschaft für Neuroradiologen hat bereits 2012 gemeinsam mit ihren Kollegen der Deutschen Gesellschaft für Interventionelle Radiologie ein Zertifizierungsprogramm auf den Weg gebracht, welches eine qualitätsorientierte Fortbildung von Neuro-Interventionalisten auf höchstem Niveau sichert. Aktuell halten deutschlandweit 157 Neuro-radiologen das Zertifikat Neuromodul E „Rekanalisierende Maßnahmen“, zu denen die interventionelle Schlaganfallbehandlung zählt, zusätzlich existieren 51 Ausbildungsstätten für die Thrombektomie. Mit dieser Abdeckungsrate ist die deutsche Neuroradiologie in der Lage, die interventionelle Versorgung von Schlaganfallpatienten sicherzustellen. Bislang erhalten in Deutschland pro Jahr etwa 5.000 Schlaganfallpatienten eine Thrombektomie. Noch mehr Menschen könnten jedoch von der Methode profitieren, wenn die Zuweisung in Frage kommender Patienten in Neurozentren verbessert würde. „Für kleinere Kliniken oder Krankenhäuser auf dem Land, die nicht über die erforderliche Expertise verfügen, müssen Anreizsysteme geschaffen werden, damit die Patienten in Spezialkliniken transportiert werden“, fordert Jens Fiehler. „Der Effekt wäre nicht nur für Patienten enorm, sondern auch für unser Gesundheitssystem. Man muss sich ja nur einmal vorstellen, welche Kosten man einsparen kann mit einem Eingriff, der die Zahl womöglich lebenslang behinderter Menschen um 20 bis 30 Prozent verringert. Ich glaube, es gibt selten eine Methode, die letztlich so wirksam und kosteneffizient ist wie die Thrombektomie.“
Angiografie des Schlaganfalls vor Rekanalisation. Angiografie des Schlaganfalls vor Rekanalisation. Der Blutfluss ist gestört. UKE Fiehler
Angiografie des Schlaganfalls Nach erfolgreicher Rekanalisation ist der Blutfluss wieder hergestellt.UKE Prof. Fiehler
Prof. Dr. Jens Fiehler - Leiter der Neuroradiologie am UKE Hamburg UKE Fiehler
Literatur
M. Goyal, A.M. Demchuk, B.K. Menon et al.: Randomized Assessment of Rapid Endovascular Treatment of Ischemic Stroke, The New England Journal of Medicine, published on February 11, 2015, at NEJM.org.
Artikel: http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa1414905#t=article
B.C.V. Campbell, P.J. Mitchell, T.J. Kleinig et al.: Endovascular Therapy for Ischemic Stroke with Perfusion-Imaging Selection, The New England Journal of Medicine, published on February 11,
2015, at NEJM.org. Artikel: http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa1414792#t=article
Fachlicher Kontakt bei Rückfragen
Prof. Dr. Jens Fiehler, Direktor Neuroradiologie, Universitäts Krankenhaus Hamburg-Eppendorf, Mail: fiehler@uke.de
Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neuroradiologie Tel.: +49 (0)30 916070-70 E-Mail: dgnr@neuroradiologie.de